Von Goethe zu Grundschülern: Die Kunst des Beobachtens
- Lena Rudman 
- 4. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Juli
Wenn das Kind Museen langweilig findet, wenn das Kind vor van Goghs Sternennacht nicht vor Begeisterung in Ekstase ausbricht - sind das gute Nachrichten: Das Kind durchläuft eine gesunde Entwicklungsphase.
Was Kunstvermittlung betrifft, ist vieles inzwischen erprobt und etabliert. Die Ansätze sind vielfältig, oft spielerisch und prozessorientiert. Jeder pädagogische Stil bringt eigene Qualitäten mit – und genau diese Vielfalt ist eine Stärke.
Unklarer wird es, wenn die Frage aufkommt: Ab wann ist eigentlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst möglich? Ab welchem Alter kann – oder sollte – ein Kind beginnen, Kunst im klassischen Sinn zu betrachten?
Eine verbindliche Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Wenn man es besonders ambitioniert meint, ließe sich theoretisch bereits im Kreißsaal damit anfangen. Praktisch schwierig – Neugeborene sehen kaum etwas, aber das medizinische Personal hätte bestimmt Freude daran und der Vater endlich eine Beschäftigung.
Bevor die Betrachtung der Kunstwerke jedoch überhaupt sinnvoll wird, ist eine andere Fähigkeit entscheidend: die Fähigkeit zur konzentrierten Wahrnehmung. Sie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss erlernt und geübt werden.

Ein historisches Beispiel für strukturiertes Beobachten liefert Johann Wolfgang von Goethe. Während seiner Italienreise widmete er sich intensiv der Naturbeobachtung und dokumentierte seine Wahrnehmungen detailliert. Dabei ging es ihm nicht nur um das Ergebnis, sondern vor allem um den Prozess des Schauens selbst.
Diese methodische Herangehensweise zeigt sich besonders in seiner "Die Metamorphose der Pflanzen":
Goethe versuchte hier, die Entwicklung einer Pflanze nicht nur zu beschreiben, sondern sie als lebendige Abfolge von Formen, Übergängen und Prinzipien sichtbar zu machen.

Diese Methode des aufmerksamen, methodischen Beobachtens erinnert an buddhistische Achtsamkeitspraktiken und das Prinzip der bewussten Präsenz. Jeder, der sich schon einmal mit Meditation beschäftigt hat, weiß jedoch, wie schwierig es ist, sich zu konzentrieren und wirklich im Moment zu verweilen.
Wie kann man also einem Grundschulkind, das mit seiner Energie eine ganze Kleinstadt versorgen könnte, Konzentration beibringen? Wie lässt sich dieser kontemplative Prozess vermitteln, wenn noch 15 weitere solcher Kinder in der Gruppe sind (unter der Bedingung, dass Gewalt keine Lösung ist)? Die Antwort liegt nicht in der Theorie, sondern in der praktischen Anwendung.
Im Idealfall sollte man nach draußen gehen und die Natur direkt beobachten – organisatorisch ist dies jedoch nicht immer möglich. Deshalb bietet sich ein Blumenstrauß als praktische Alternative für den Innenraum an, ganz nach Goethes Vorbild der Pflanzenbetrachtung.
Ein Blumenstrauß wird zum perfekten Ausgangspunkt – nicht, um ihn zeichnerisch umzusetzen, sondern um ihn überhaupt erst einmal bewusst wahrzunehmen. Ganz wie Goethe bei seinen Pflanzenbeobachtungen lernen Kinder dabei, genau hinzuschauen: Welche Blütenformen gibt es? Wie verlaufen die Farbübergänge? In welchen Entwicklungsstadien befinden sich die Blumen? Bereits 30 Sekunden stiller, regelmäßiger Betrachtung stellen einen Fortschritt dar. Es geht um Konzentration, nicht um Produktivität.
Blumen eignen sich aus mehreren Gründen: Die Vielfalt ihrer Farben und Formen macht sie ästhetisch ansprechend, sie unterliegen sichtbaren Veränderungen und können – je nach Kontext – Themen wie Vergänglichkeit (Vanitas) und Wandel (Metamorphose) ganz ohne theoretischen Überbau vermitteln. Und wenn sie verwelkt sind, lassen sich diese verschiedenen Stadien in ein gemeinsames Kunstwerk integrieren – so wird für Kinder sichtbar, was Metamorphose bedeutet.
Dabei dürfen die Lehrkräfte nicht vergessen werden: Diese ruhigen Momente können auch für sie eine Wohltat sein, denn Schüler sind nur dann glücklich, wenn auch die Lehrer zufrieden und entspannt sind.
Übrigens: Auch für zu Hause sind Blumen ein wunderbares Mittel.
Eltern können damit ganz unauffällig jeden Tag die Konzentration ihrer Kinder fördern – ganz ohne Druck und Lehrplan, einfach am Küchentisch beim gemeinsamen Betrachten des Blumenstraußes.
Kunstbetrachtung mit Kindern ist also kein Hexenwerk – sie erfordert nur Geduld und die Bereitschaft, klein anzufangen. Wenn Kinder lernen aufmerksam zu schauen, haben sie bereits den wichtigsten Schritt getan. Alles andere folgt von selbst.



Kommentare