Emotionale Intelligenz bei Kindern: Grundlage für lebenslangen Erfolg
- Lena Rudman
- 2. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Leon ist sechs.
Gerade noch stand sein Turm aus Bauklötzen stolz in der Mitte des Kinderzimmers – jetzt liegt er in Trümmern am Boden. Frustriert, wütend und überfordert schleudert Leon die restlichen Klötze durch den Raum. Ein Bild, das viele Eltern nur zu gut kennen.
Doch stellen Sie sich eine alternative Szene vor: Leon betrachtet kurz seinen eingestürzten Turm, atmet tief durch und sagt: „Ich bin enttäuscht, dass er umgefallen ist." Dann setzt er sich hin – und beginnt geduldig, neu aufzubauen.
Was hier geschieht, ist alles andere als selbstverständlich. Es ist emotionale Intelligenz in Aktion – die wertvolle Fähigkeit, Gefühle zu erkennen, zu benennen und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Ein Kind, das „Ich bin frustriert" sagt, anstatt zu toben, hat etwas Wertvolles gelernt. Auch Trost spenden zu können schafft nicht nur kurze Momente der Empathie, sondern fördert tiefe zwischenmenschliche Verbindungen, die unsere Gesellschaft stärken.
Dies ist keine unrealistische Wunschvorstellung. Kinder bringen die natürlichen Voraussetzungen dafür mit – was sie brauchen, sind aufmerksame Erwachsene, die ihnen zuhören, als Vorbild dienen und ihnen die Sprache vermitteln, um auszudrücken, was sie fühlen. Denn emotionale Intelligenz ist keineswegs nebensächlich. Sie unterstützt Kinder maßgeblich dabei, Herausforderungen zu meistern, gesunde Beziehungen zu gestalten – und sich selbst tiefgreifender zu verstehen.
Kinder mit höherer emotionaler Intelligenz haben zudem später weniger Schwierigkeiten in der Schule:
Sie finden leichter Freunde und behalten sie
Sie erholen sich schneller von Enttäuschungen
Sie sind widerstandsfähiger gegen Gruppendruck
Und ja, sie sind insgesamt glücklicher
Robert Plutchik und sein Emotionsrad
Im Familien- und Schulalltag liegt der Fokus häufig auf klassischen Lerninhalten: Lesen, Schreiben, Rechnen. Was dabei oft zu kurz kommt, ist die emotionale Entwicklung – die Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und angemessen damit umzugehen.
Dabei sind genau diese Fähigkeiten entscheidend für ein harmonisches Miteinander, für Widerstandsfähigkeit und für konstruktive Beziehungen – sowohl in der Kindheit als auch im späteren Leben. Um Gefühle greifbarer zu machen, hilft ein anschauliches Bild: Emotionen sind wie Farben. Rot steht für Wut, Blau für Traurigkeit, Gelb für Freude. Doch was ist mit all den Zwischentönen – wie Scham, Neid oder Dankbarkeit?
Der US-amerikanische Psychologe Robert Plutchik entwickelte 1980 ein einprägsames Modell dafür: das Emotionsrad. Es veranschaulicht, wie die acht Basisemotionen – Freude, Vertrauen, Furcht, Überraschung, Trauer, Ekel, Wut und Erwartung – miteinander kombiniert werden und dadurch vielfältige, komplexere Gefühle entstehen kann. Plutchik ging davon aus, dass diese Emotionen evolutionär entstanden sind, weil sie dem Überleben dienen – beispielsweise schützt uns Angst vor Gefahren oder stärkt Wut unsere Abwehrbereitschaft.
Dieses Modell kann Kindern (und gleichermaßen Erwachsenen) dabei helfen, Gefühle präziser zu benennen, einzuordnen und darüber zu sprechen. Denn wer versteht, was in seinem Inneren vorgeht, kann nicht nur besser mit anderen in Kontakt treten – sondern findet auch einen tieferen Zugang zu sich selbst.
Neurobiologische Erkenntnisse
Die Forschung von Dr. Lisa Feldman Barrett zeigt: Das Gehirn eines Kindes entwickelt neuronale Pfade für emotionale Differenzierung durch wiederholte Erfahrung und Benennung. Je präziser ein Kind seine Gefühle benennen kann, desto besser kann es sie regulieren – ein Prozess, den Neurowissenschaftler als "emotionale Granularität" bezeichnen.
Wie Kinder Gefühle entdecken
2-3 Jahre: Erste Grundgefühle
In diesem Alter erkennen Kinder einfache Emotionen wie Freude, Wut und Traurigkeit.Sie äußern diese deutlich – etwa durch Lachen, Weinen oder Wutanfälle.
Spieltipp: Gefühle im Spiegel zeigen und gemeinsam fotografieren.
4-5 Jahre: Erste Mischgefühle
Kinder beginnen, differenzierter zu fühlen – zum Beispiel Enttäuschung oder Stolz.
Sie verstehen, dass Gefühle mehr als eine Ursache haben können.
Spieltipp: Gefühls-Memory mit verschiedenen Gesichtsausdrücken.
6-8 Jahre: Komplexeres Verstehen
Kinder erkennen, dass mehrere Gefühle gleichzeitig möglich sind. Sie entwickeln Einfühlungsvermögen und verstehen, dass andere anders empfinden können.
Aktivität: Ein kleines Gefühlstagebuch führen – z. B. mit Zeichnungen oder Farben.
Praxis-Tricks für den Alltag
Die 5-Finger-Methode für emotionale Auszeiten
Daumen: Tief ein- und ausatmen
Zeigefinger: Das eigene Gefühl benennen
Mittelfinger: Bis 5 zählen
Ringfinger: Nach Lösungen suchen
Kleiner Finger: Unterstützung holen, wenn nötig
Das Gefühls-Thermometer
Eine Skala von 1-10 hilft Kindern, die Intensität ihrer Gefühle zu kommunizieren. "Meine Aufregung ist jetzt auf 8, gestern war sie auf 10!"
Die Unterstützungsbox
Jedes Kind gestaltet seine persönliche Box mit:
Knete zum Frustrationsabbau
Lieblings-Kuscheltier zum Trösten
Glitzerflasche zur Beruhigung
Gefühls-Karten zur Reflexion
Die 5-Minuten-Mini-Übungen mit Maxi-Wirkung
Keine Zeit für aufwendige Projekte? Diese Mini-Übungen passen in jeden Alltag:
Beim Autofahren:
"Gefühls-Detektiv" – Beobachtet Gesichter in anderen Autos und erratet die Gefühle.
Beim Abendessen:
"Gefühls-Runde" – Jeder nennt das stärkste Gefühl des Tages und was es ausgelöst hat.
Vor dem Schlafengehen:
"Gefühls-Wetter" – "Wie war dein Gefühls-Wetter heute? Sonnig, regnerisch, stürmisch?"
Ein Blick in die Zukunft
Stellen Sie sich vor: Ihr Kind, jetzt noch klein, sitzt eines Tages als Teenager am Küchentisch und sagt: "Mama, ich bin wirklich nervös wegen der Prüfung morgen. Kannst du mir helfen, mich zu beruhigen?" Statt nach innen zu explodieren oder sich zurückzuziehen.
Ist das nicht eine schöne Vision? Mit jeder kleinen Übung zur emotionalen Intelligenz kommen Sie diesem Ziel näher.
Literaturempfehlungen:
Goleman, D. (2020): Emotionale Intelligenz bei Kindern und Jugendlichen
Gottman, J. & DeClaire, J. (2018): Kinder brauchen emotionale Intelligenz
Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2021): Emotionale Kompetenz bei Kindern
Brackett, M. (2022): Das große Einmaleins der Gefühle: Wie Kinder Emotionen verstehen lernen
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